Aphorismen

APHORISMEN •

Über Leidenschaft •

Die Frage nach dem richtigen Maß an Leidenschaft scheint ebenso auf die Frage nach eine 'guten' Leben abzuzielen. 
In der Antike vertraten die Stoiker die Ansicht, ein leidenschaftsloses Leben sei ein gutes Leben. Nur wer frei ist von seinen „niederen, körperlichen“ Trieben und die „Vernunft“ als höchstes Erkenntniswerkzeug benutzt, könne demnach ‚Wahrheit' finden. 
Bis heute hält sich die (unbewusste) Überzeugung hartnäckig, der Geist oder der denkende, ‚vernünftige’ Teil des Menschen sei ‚der’ Weg zur Erkenntnis schlechthin.
Doch bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass Leidenschaften eine Richtung vorgeben; etwas an- oder aufzeigen können. 
Jemand leidenschaftlich zu lieben oder einer Tätigkeit leidenschaftlich nachzugehen, zeigt eine tiefe Identifikation an. Dieses sich-identifizieren ist weniger eine intellektuelle oder rationale Überzeugung, sondern eine unmittelbar körperliche Erfahrung. Ein fast archaischer Ausdruck von Lust. Leidenschaftlich zu sein, bedeutet demnach auch, sich etwas oder jemanden hingeben zu können, dem körperlichen Ausdruck zu vertrauen. „Die Leidenschaften sind die Stimmen des Körpers“ (Rousseau, Emile) betont Rousseau und darin wird deutlich, dass ein Hinhören auf den Körper nötig ist, um zum Inhalt dieser Stimme zu gelangen. Gerade dieses „Hören" des eigenen Körpers kann zu der tiefen Einsicht führen, dass Mensch-Sein nur ‚verkörperlicht‘ gedacht werden kann. Ohne Körper kein Geist. Zu denken fußt auf den Umstand immer auch mit einem physischen Körper „in-der-Welt zu sein“ (Heidegger, Sein und Zeit). 




Und doch kann Leidenschaft zu wahrem Leid führen. Ebenso wie man sich finden, kann man sich auch verlieren in der Hingabe. 
Der Drang sich ganz und gar seinen Leidenschaften hinzugeben ist unmittelbar verbunden mit dem Drang nach Verschmelzung. Pränatale Gefühle und das damit einhergehende Bedürfnis nach Eins-Sein stehen der Angst der Ich-Auflösung entgegen, worin das Spannungsfeld erkenntlich wird.

In der Mitte dieser Pole liegt das individuelle Maß. Zwischen Hingabe und Kontrolle. Zwischen Auflösung und Integrität. Zwischen Körper und Geist. Leidenschaft und Vernunft.

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